Eine kleine Geschichte der Paartherapie …

Wie war das vor 100 Jahren?

Noch vor ungefähr 60 Jahren war der Begriff „Paartherapie“ völlig unbekannt. Um 1900 lag die Scheidungsrate bei 2%, 1930 bei 7% und 1960 bei 8%. Scheidungen waren also ein eher exotischer Vorgang, ein Paar blieb in der Regel zumindest im Außen zusammen, bis einer der Partner starb. Heute ist alles ganz anders: mehr als die Hälfte aller Ehen wird irgendwann geschieden, von den Beziehungen ohne Trauschein mal ganz abgesehen. Und immer mehr Paare suchen Hilfe beim Paartherapeuten. Was ist in den letzten 50 Jahren passiert?

Sind wir unfähig, in Beziehung zu leben? Und wenn ja, warum?

Was haben unsere Großeltern und Urgroßeltern besser gemacht als wir? Fragen, die es wert sind, im Detail angeschaut zu werden. Zunächst einmal gilt es, bestimmte Aussagen zu relativieren: die niedrige Scheidungsquote früherer Jahre bedeutete nicht automatisch einen hohen Anteil glücklicher Beziehungen. Ehen wurden damals viel weniger von der Zufriedenheit der Partner als von äußeren Zwängen zusammengehalten: finanzielle Abhängigkeit, wirtschaftliche Notwendigkeiten, kirchliche Gebote, mangelnde Perspektiven und natürlich auch die soziale Ächtung der Scheidung waren die wichtigsten Gründe, warum eine Trennung nur für wenige Menschen in Frage kam – auch wenn die Ehe als unglücklich oder sogar zerstörerisch erlebt wurde. Das war dann Schicksal.

Veränderte Erwartungen

Außerdem ist zu sehen, dass sich die Erwartungen an eine Beziehung in diesen letzten 50 Jahren fundamental verändert haben. In einer Zeit, in der die vom Menschen geschaffenen sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen große Verwandlungen erfahren, verändert sich auch die Art und Weise, wie wir miteinander in Beziehung gehen. Dies gilt in besonderem Maße für die Paarbeziehung. Diese umwälzenden Veränderungen betreffen nicht nur äußere Strukturen, sondern in noch stärkerem Maß die Innenwelten der beteiligten Partner. Unser Fähigkeit zur Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung entwickelt sich in rasanter Geschwindigkeit. Diese Evolution des Bewusstseins öffnet aber nicht nur Türen, durch die wir niemals vorher gegangen sind – sie schafft auch Komplexitäten und Ansprüche, die die Menschen früher nicht kannten. Daher konnten sie uns auch keine funktionierenden Modelle hinterlassen. Wir müssen daher unsere Beziehungsrealität neu erschaffen, ohne Orientierung Schritt für Schritt ins Unbekannte gehend. Das ist wie Kultivierung von Brachland – es ist manchmal mühsam, man weiß nie, was einen erwartet, und überall lauern Fallen. Andererseits erleben wir Momente von Glück, Erfüllung und eine innere Ausdehnung, die so nur in der Bezogenheit auf einen anderen Menschen möglich sind. Die meisten von uns kennen das – aber zumeist wird es nur am Anfang einer Beziehung so erlebt (und wir nennen es dann ‚Verliebtsein‘).

Anspruch und Wirklichkeit

In der Mehrzahl erleben die Menschen mit zunehmender Dauer der Beziehung ein Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit, was dazu führt, dass viele sich wieder trennen und danach einer tieferen Bindung gänzlich ausweichen. Sie haben es probiert und fühlen sich daran gescheitert, ohne wirklich gelernt zu haben, wie man es besser macht. Sie kapseln sich ein, aus Angst, das gleiche Drama nochmal zu wiederholen. Oder sie springen von einer kurzen Beziehung zur nächsten, von einem Lust-und-Schmerz Zyklus zum Nächsten. Sobald es schwierig wird, geben sie auf. Dies scheint unser tief verwurzeltes Bild von Beziehungen zu bestätigen: am Anfang ist es schön und spannend, aber je länger es dauert, desto anstrengender und/oder langweiliger wird es. Wobei wir gar nicht sehen, das wir mit diesen inneren Bildern unsere Wirklichkeit und damit einen Teufelskreis aus unbewusster Erwartung und Bestätigung erst schaffen

Gemeinsam in Liebe wachsen

Manchmal sieht es also wirklich so aus, als wären wir auf dem Weg in das kollektive Single- Dasein. Und doch gibt es in fast allen Menschen das tiefe Bedürfnis, sich auf einen Partner zu beziehen und gemeinsam in Liebe zu wachsen. Leider bleibt diese Sehnsucht zu oft unerfüllt. Denn weder zu Hause, noch in der Schule oder auf der Uni haben wir gelernt, wie es geht. Wir scheitern an mangelndem Wissen, mangelnden Vorbildern und mangelnder Erfahrung.

Quintessenz

Kommen wir zurück zur Frage, ob unsere Großeltern und Urgroßeltern es besser gemacht haben als wir. Die Wahrheit ist, dass die Zeiten sich so grundlegend gewandelt haben, dass jeder Vergleich unsinnig ist. Probleme und Auseinandersetzungen in der ehelichen Beziehung wurden als Schicksal hingenommen, man versuchte sich irgendwie zu arrangieren oder schaffte sich Ventile an anderer Stelle. Ansonsten lag der Lebensfokus auf der Sicherung der materiellen Existenz, dem Unauffällig-Sein im sozialen Kontext und der Realisierung des gesellschaftlichen Aufstiegs. Seit den 60er Jahren wurde aber zunehmend deutlich, dass es eine Krise der Institution „Ehe“ gibt. Indizien dafür waren eine stark steigende Scheidungsrate sowie die wachsende Zahl von Menschen, die in nicht-ehelicher Gemeinschaft zusammenlebten (und deren Trennungsrate statistisch zwar nicht erfaßt wurde, jedoch signifikant höher liegen dürfte). Irgendwann in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann die Scheidungsrate dann zu steigen. Die ersten, die alarmiert waren, waren die Kirchen. Sie schufen die Institution der Eheberatung, deren Ziel war, den Ehepartner einen anderen Weg als die Scheidung aufzuzeigen. Aus diesen (einseitigen) Anfängen entwickelte sich die moderne Paartherapie.